Steuerbare Prozessevolution: Analyserezepte ohne Process-Mining Spaghetti

Dienstag, 7.5.2024

Bild für Blogpost (6) (1)

Workarounds sind in vielen Unternehmen zu einem alltäglichen Phänomen geworden. Mitarbeiter:innen werden kreativ, um operativ Hindernisse, Engpässe und andere Herausforderungen zu überwinden. Aber was bedeutet dies für Unternehmen? Workarounds stellen nicht nur eine pragmatische Lösung für akute Probleme dar, sondern bergen auch ein beträchtliches Potenzial für Prozessevolution und Wandlungsfähigkeit. Trotz ihrer Bedeutung finden sie in Unternehmen nur wenig Beachtung. So konzentriert sich auch der klassische BPM-Zyklus vor allem auf die Überwachung und Optimierung von Prozessen, ohne konkrete Anleitungen für die Auswahl zwischen den zahlreichen Prozessvarianten zu bieten oder anzuerkennen, dass sich ein Prozess auch weiterentwickelt ohne, dass der zentralistische BPM-Zyklus sich “dreht”.

Hier setzt das Konzept des Workaround Sensing and Seizing an, das einen tieferen Einblick in die Vielfalt der von Mitarbeiter:innen entwickelten Lösungen ermöglicht. Workarounds werden dabei als Quasi-Experimente betrachtet. Sie stellen reale, dezentrale, simulierte oder auch bewusste Durchläufe von Prozessalternativen dar, die als Problemlösung oder als Optimierung dienen und somit untersucht und validiert werden können.

WIE KANN DAS AUSSEHEN?

Process Mining bietet eine naheliegende Technik, um Geschäftsprozesse auf Basis digitaler Spuren in IT-Systemen zu rekonstruieren und auszuwerten. Dabei werden die vielfältigen Prozessvarianten im Unternehmen aufgedeckt, die u.a. durch Workarounds entstanden sind. Diese Technik hat in den letzten Jahren enorm an Bedeutung gewonnen, da sie Unternehmen dabei unterstützt, ihre Prozesse zu verstehen, zu optimieren und zu überwachen. Mittlerweile steht eine breite Palette an Werkzeugen zur Verfügung, um Process Mining Analysen durchzuführen. Namen wie Celonis und Apromore sind in diesem Zusammenhang häufig zu hören und haben den Zugang zu solchen Analysen für Unternehmen erheblich erleichtert. Darüber hinaus werden diese Tools zunehmend durch BI-Werkzeuge ergänzt, die die Erfassung und Visualisierung von Prozesskennzahlen ermöglichen.

Dennoch gibt es auch Herausforderungen bei der Anwendung von Process Mining, wie wir sie in unserem BMBF-Forschungsprojekt Change.WorkAROUND erfahren haben. Ein wesentliches Feedback unserer Anwendungspartner mit Process Mining Erfahrung ist, dass die Voraussetzungen für die Technik oft eine Hürde darstellen. Um aussagekräftige Analysen durchführen zu können, ist ein aufbereitetes Event Log mit Aktivitäten und Zeitstempeln erforderlich. Zudem zeigen die Werkzeuge zwar unsichtbare Prozessalternativen auf, jedoch bleibt die Frage offen, warum es diese Vielzahl an Alternativen gibt und welche davon zukünftig in einen Soll-Prozess überführt werden soll. Stattdessen sind Unternehmen mit der Spaghetti-Darstellung ihrer Prozesse überfordert, wobei es oft auch gute (unübersichtliche) Gründe für mehrere Prozessvarianten gibt.

WARUM IST EINE MULTI-LEVEL-ANALYSE FÜR DIE WORKAROUND-ANALYSE UNERLÄSSLICH?

Um Workarounds umfassend zu verstehen und effektiv zu analysieren, reicht Process Mining allein oft nicht aus. Vielmehr ist es entscheidend, eine Multi-Level-Analyse durchzuführen, die verschiedene Methoden und Perspektiven integriert.

Klassische Process Mining Algorithmen sind fokussiert auf die Erkennung oder Überprüfung von Kontrollflüssen: Welche Aktivitäten werden von wem in welcher Reihenfolge durchgeführt? Viele Workarounds finden jedoch nicht auf dieser Detailebene oder überhaupt mit dieser Perspektive statt. Beispielsweise werden Parameter verändert, Dinge werden nicht oder verzögert protokolliert und andere Materialien oder Methoden als üblich kommen zum Einsatz.

Die wesentliche Herausforderung ist daher, die Annahmen klassischer Process Mining Werkzeuge zu überwinden und insbesondere fachliche Kennzahlen, die über den Kontrollfluss und seine Durchlaufzeiten hinausgehen, in den Fokus zu nehmen. Damit können Prozessvarianten inhaltlich bewertet werden. Zufriedene Kund:innen, erfolgreiche Qualitätssicherung, eingesetztes Material und Kennzahlen dieser Art sind gemeinsam mit den Kennzahlen der Kontrollflussperspektive zu betrachten. Nur so können Prozessvarianten sinnvoll bewertet werden.

Sollten diese Daten nicht vorliegen, sind sie vielleicht herzustellen (Stichwort: Observeability der Prozesse). Was hier offensichtlich klingt, bedeutet allerdings für viele Unternehmen einen erheblichen Eingriff in die Datenstrategie und ist ein klares Etappenziel. Das “Fahren auf Sicht” mit Prozessvarianten als Dimension im Data Warehouse ermöglicht eine kontrollierte Prozessevolution.

WORKAROUNDS IM ÖKOSYSTEM

Sind die Rahmenbedingungen für eine kontrollierte, datengetriebene Prozessevolution gegeben, warten die folgenden Herausforderungen im erweiterten Ökosystem eines Workarounds auf die Process Owner:

  • Häufig entsteht ein Workaround als Reaktion auf ein bestehendes Problem oder Hindernis. Doch Workarounds können selbst zu neuen Herausforderungen führen und weitere Workarounds nach sich ziehen – es entsteht eine so genannte Workaround-Kette. Diese Ketten müssen analysiert werden, um die zugrunde liegenden Ursachen und Wirkungen zu verstehen.

  • Einzelne Workarounds sind oft keine isolierten Ereignisse, sondern können Teil einer größeren Verhaltensänderung über einen längeren Zeitraum sein. Daher ist es wichtig, nicht nur Einzelfälle zu betrachten, sondern eine globale Perspektive einzunehmen, um Trends und Entwicklungen im Zeitverlauf zu erkennen. In einigen Fällen können Workarounds auch bereits zur Norm geworden sein und den ursprünglich geplanten Prozess ersetzt haben, ohne dass dies dokumentiert wurde. Das macht sie für datengestützte Verfahren nahezu unsichtbar. In solchen Fällen ist es unerlässlich, die historische Entwicklung und den Wandel der Prozesse zu rekonstruieren, um ein vollständiges Bild zu erhalten.

  • Prozesse sind oft nicht isoliert, sondern interagieren miteinander über Schnittstellen. Ein Workaround in einem Prozess kann daher Auswirkungen auf andere Prozesse haben und vice versa. Diese Prozessschnittstellen müssen daher ebenfalls betrachtet werden, um die Gesamtwirkung von Workarounds als “Saldo” zu verstehen. Hierin liegt auch eine Chance bei der gezielten Suche nach Workarounds: Hat man einen Workaround gefunden, sind vermutlich weitere Workarounds in der (Prozess-) Nähe zu erwarten.

Auf dem Weg, Workarounds zu entdecken, zu verstehen und in Prozessinnovationen zu übertragen, gibt es Hoffnung. Doch dieser Weg wird nicht ohne die Einbindung von Domänen-Expert:innen auskommen. Insgesamt erfordert die Analyse von Workarounds ein breites Spektrum von Ansätzen und Methoden, um ein umfassendes Verständnis zu erreichen und zukünftige Optimierungspotenziale aufzudecken.

METHODEN DER STEUERBAREN PROZESSEVOLUTION

Im Rahmen unseres Forschungsprojektes arbeiten wir an einem Methodenbaukasten für diesen Zweck. Er ergänzt die bislang kontrollflusslastige Perspektive des Process Mining und ermöglicht es, mehr über Workarounds zu erfahren. Die entwickelten Methoden konzentrieren sich in unterschiedlichem Maße auf die Sammlung von Daten, die Identifizierung von Workarounds (Sensing) und deren anschließende Bewertung und Umsetzung in eine Prozessinnovation (Seizing).

image-20240313-124739 (1)

Periodensystem der Workaround-Methoden

Einige der Methoden basieren auf künstlicher Intelligenz (AI), während andere auch ein Event Log (EL) benötigen und somit ähnliche Voraussetzungen wie die Process Mining Technik haben. Besonders interessant sind die Methoden, die einen Monitoring-Modus (image (1)) ermöglichen, um das Verhalten des Prozesses über einen längeren Zeitraum zu verfolgen. Darüber hinaus gibt es Methoden, die nach bekannten Mustern in den Daten suchen (SU).

Gute Erfahrungen haben wir vor allem mit Drift Detection und Prozesskennzahlen gemacht. Drift Detection ist ein bekanntes Verfahren aus der Datenanalyse, um zeitliche Abweichungen zu finden. Beispielsweise haben wir bei einem Anwendungspartner die Anzahl der Prozessbeteiligten über einen bestimmten Zeitraum dargestellt. Etwa im Juli 2021 konnten wir eine Veränderung feststellen. Ab diesem Zeitpunkt waren durchschnittlich weniger Personen am Prozess beteiligt. Die Gründe für diese Veränderung sind jedoch nicht so einfach zu ermitteln. Es könnte sein, dass die Mitarbeiter:innen einen Weg gefunden haben, um den Prozess effizienter zu gestalten. Es könnten aber auch Prozessschritte weggefallen sein. Um die Ursache für die Abweichung zu bestimmen, wird das Wissen der Domänenexpert:innen benötigt.

image-20240313-130025 (1)

Drift Detection im Monitoring-Modus zur Identifizierung von Workarounds

Neben derartigen Sensor-Kennzahlen, die wir gezielt eingeführt haben, um Veränderungen festzustellen, können aber auch klassische Prozesskennziffern erhoben werden. Beispielsweise kann die Durchlaufzeit einer Prozessinstanz überprüft werden. Dies bietet die Möglichkeit, verschiedene Prozessvarianten miteinander zu vergleichen. Effiziente Prozessvarianten können so leicht identifiziert und Prozesse entsprechend umgestaltet werden. Process Mining Tools enthalten zunehmend auch derartige BI-Komponenten, um Prozesse zu überwachen. Umgekehrt können BI-Werkzeuge wie Power BI auch für Process Mining genutzt werden.

WEITERES MATERIAL

Dieser Blogpost basiert auf einem Vortrag, den ich auf dem NAVIGATE-KONGRESS 2024 gemeinsam mit meinem Kollegen Christian Bartelheimer von der Universität Paderborn gehalten habe. Auch hier wurden das Thema Workarounds sowie einige Methoden aus dem Werkzeugkasten präsentiert. Die Aufzeichnung des Vortrags ist hier zu finden.

Im letzten Blogartikel wurden schon die Methoden Process Spectrum Analysis und Causal Inference vorgestellt.

Im kommenden Projektjahr wollen wir gemeinsam mit unseren Partner-Unternehmen weitere Methoden implementieren sowie einige der gefundenen Workarounds in Regelprozesse überführen. Dabei setzen wir auch auf Large Language Models, da diese ein großes Potential für die Gestaltung des Zugangs zur oft unübersichtlichen Welt von Prozessvarianten, Sonderfällen und Workarounds bieten. Hierzu entsteht bereits ein Prototyp.

FAZIT

Der Weg, Workarounds zu entdecken und zu verstehen, ist komplex und erfordert einen interdisziplinären Ansatz. Durch die Integration von Process Mining mit innovativen Methoden u. a. aus den Bereichen Künstliche Intelligenz und Datenanalyse sind wir zuversichtlich, dass wir Unternehmen dabei unterstützen können, ihre Prozesse zu optimieren und ihre Wandlungsfähigkeit zu steigern. Der von uns entwickelte Methodenbaukasten bietet eine vielfältige Auswahl an Werkzeugen, um Workarounds zu identifizieren, zu bewerten und letztendlich in effiziente und effektive Geschäftsprozesse zu überführen.

WERDEN SIE AKTIV

Dieser Blogbeitrag ist Teil einer Blogserie zum Forschungsprojekt ChangeWorkAROUND. Mehr zu Process Mining Methoden und entsprechenden Werkzeugen erfahren Sie auch in unserem Process Mining Seminar. Wir sind immer auf der Suche nach Austausch zu unseren neuen Methoden und Werkzeugen.

Jeder Prozess entwickelt sich. Wir haben die Wahl, diese Dynamik zu nutzen und mitzugestalten oder wegzuschauen. Sollte Ihr Team ebenfalls kreativer als der Soll-Prozess sein, lassen Sie uns gerne darüber sprechen. Wir helfen gern, damit ein sinnvoller Evolutionspfad auf kontrollierte Weise entstehen kann.


zurück zur Blogübersicht

Diese Beiträge könnten Sie ebenfalls interessieren

Keinen Beitrag verpassen – viadee Blog abonnieren

Jetzt Blog abonnieren!

Kommentare

Sina Nordlohne

Sina Nordlohne

Sina Nordlohne ist Beraterin bei der viadee IT-Unternehmensberatung. Hier beschäftigt sie sich mit den Themen Business Intelligence, Data Warehouse und SAS-Entwicklung, besonders im Bereich Banken und Finanzdienstleister.

Sina Nordlohne auf LinkedIn