Der methodische Umgang mit Workarounds: Prozessinnovation und Risikominimierung

Donnerstag, 22.6.2023

Treffen Mitarbeiter:innen in einem Prozess auf Hindernisse, erfinden sie häufig kreative Lösungen, um ihre Aufgaben erfolgreich durchzuführen. Diese Lösungen können effizienzsteigernde Prozessinnovationen offenlegen, jedoch auch unentdeckte Risiken bergen. Für Führungskräfte stellt sich demnach die Frage, wie mithilfe von Daten aus Informationssystemen die Potenziale von Workarounds entdeckt, bewertet und integriert werden können, um Risiken zu minimieren und Vorteile zu nutzen.

Damit die Auswirkungen eines Workarounds methodisch erfasst werden können, bieten sich verschiedene Mittel an. Grundsätzlich lässt sich die Analyse von Workarounds in drei grundlegende Schritte aufteilen. Workarounds werden zunächst identifiziert, kategorisiert und anschließend bewertet. Jeder Grundschritt weist dabei unterschiedliche Verfahren und Herangehensweisen auf.

Hintergrund:

Im Rahmen des Forschungsprojektes Change.WorkAROUND untersuchen Mitarbeitende der viadee gemeinsam mit der Universität Paderborn und Partnerunternehmen die Thematik, Ursachen und Auswirkungen von Workarounds systematisch. Das Projekt wird gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. In diesem Zusammenhang entstand auch dieser Blogpost.

 

Workaround-viele-Wege-fuehren-zum-ziel-Symbolbild

Symbolbild: Eine KI interpretiert "Viele Wege führen zum Ziel" als Umschreibung für Workarounds (erstellt mit dem DALL·E).

 

Process Mining - Und dann?

Bei der Analyse von Workarounds in Prozessdaten liegt der Methoden-Pool des Process Mining nahe. Bringen sie uns weiter, um operativen Erfindungsgeist zügig in sich anpassende Soll-Prozesse zu überführen?

Workarounds unterscheiden sich von Anomalien oder "nicht konformen Prozessinstanzen", die ein häufiger Betrachtungsgegenstand von Process Mining-Analysen sind.

  1. Workarounds werden im Gegensatz zu willkürlichen Abweichungen dazu genutzt, die Prozessziele zu erreichen, während das wahrgenommene Hindernis berücksichtigt wird. Sie sind nicht pauschal schlecht!
  2. Ein Workaround kann auch dauerhaft angewendet werden und ist dann keine Anomalie im statistischen Sinne.
  3. Process Mining setzt fast immer und ausschließlich am Kontrollfluss an. Die Methode analysiert die Abfolge von Tätigkeiten, die ausführende Personen und die Dauer von Schritten. Geschäftsprozesse haben aber noch mehr Freiheitsgrade als diese.
  4. Process Mining betrachtet Prozessinstanzen einzeln und losgelöst voneinander. Die Wirklichkeit ist oft komplexer.

Daher eignen sich die Methoden des Process Mining durchaus zur Identifikation einiger Arten von Workarounds (wie bspw. hier). Die interessantere Herausforderung stellt sich aber erst im Anschluss: Das Process Mining Werkzeug der Wahl hat eine Spaghetti-Struktur mit sehr vielen Prozessvarianten aufgezeigt: Wie kann jetzt eine Kategorisierung und Bewertung sinnvoll stattfinden und wie können wir das Wissen von Prozessteilnehmer:innen und Fachexperten/-innen einbeziehen?

 

Workarounds mit KI und Machine Learning finden

Auch im Bereich der Workaround-Analyse finden die mittlerweile omnipräsenten KI-Algorithmen Anwendung. Mittels Deep Learning Algorithmen können Workarounds erkannt und klassifiziert werden (bspw. hier aus dem Team von Prof. Daniel Beverungen, unseren Kooperationspartnern an der Universität Paderborn). Dafür müssen idealerweise Kategorien (bspw. "Verzögerungen") vorab festgelegt und in Trainingsdaten ausgewiesen sein, um neuronale Netze anzulernen. Alternativ kann man mit diesen Verfahren nach Anomalien suchen.

Darauf aufbauend können Workarounds in neuen Datensätzen identifiziert werden. Eine Einschätzung der Effekte des Workarounds ist ausschließlich mithilfe des kontextabhängigen Fachwissens möglich. Weitergehend kann dieses Wissen genutzt werden, um Workaround-Analysen zu teilautomatisieren. Dieser Lösungsansatz ist folglich stark an vorhandene Testdaten geknüpft. Ferner ist die Methode auf strukturelle Daten mit geringer Varianz angewiesen. Dynamische Prozesse, die oft auftretende Veränderungen aufweisen, lassen sich nur schwer analysieren - die "Normalität" kann dann nicht gelernt werden.

Mit diesen Verfahren können viele Aspekte jenseits des Kontrollflusses und einzelner Instanzen berücksichtigt werden, um Workarounds zu finden. Eine Hilfe bei deren Bewertung sind diese Verfahren bislang nicht.

Während die Research Community schon KI-basiertes BPM und autonome Anpassungen von Prozessen diskutiert (ABPM), verdient der Bewertungsaspekt besondere Aufmerksamkeit. Wann ist eine Workaround oder eine Prozessvariante sinnvoll?

 

Kausale Inferenz: Was wäre, wenn wir öfter so vorgehen?

Im Allgemeinen bezieht sich die Bewertung von Workarounds auf ihre Ursache-Wirkung-Effekte im entsprechenden Umfeld von KPIs und Prozesskennzahlen. Derartige Effekte sind Fokus im Forschungsbereich der kausalen Inferenz, welche statistische Mittel zur Schätzung der Effekte verwendet.

Veränderungen in einer Variable (Workaround Ja / Nein) werden auf andere Variablen zurückgeführt und bilden so eine fundierte Grundlage für Entscheidungsfindungen und die Entwicklung wirksamer Strategien im Umgang mit Workarounds: Effekte und Trade-offs werden objektiv diskutierbar.

Die größte Herausforderung bei der Anwendung kausaler Inferenz ist die angemessene Eliminierung von Störfaktoren (eng. Confounder). Störfaktoren stehen mit dem Workaround und dem betrachteten Ergebnis im Zusammenhang. Unbeachtete Störfaktoren sorgen für Verzerrungen (auch Bias), die eine Schätzung des Workaround-Effekts nicht zulassen. Ein Beispiel hierfür ist die Messung des Effekts eines Workarounds auf die Effizienz eines Geschäftsprozesses. Als Störfaktor kann hierbei die Arbeitserfahrung der ausführenden Mitarbeiter:innen gelten. Dieser Faktor muss bei der Effektschätzung berücksichtigt werden, um die Auswirkungen des Workarounds zu isolieren: Vielleicht können nur erfahrene Mitarbeitende den Workaround sinnvoll anwenden? Vielleicht leidet sonst die Ergebnisqualität?

 

example-dag

Die Theorie der kausalen Inferenz bietet Methoden an, um diesen Einfluss zu handhaben. Oft werden die zusammenhängenden Kennzahlen und ihre Wirkungsrichtungen auch als Graph dargestellt (DAG), um dann deren Einflüsse isolieren zu können. Eine typische Methode ist das Matching, bei dem die vorliegenden Daten in Gruppen aufgeteilt werden, z. B. in eine Gruppe mit und eine ohne Workarounds oder in eine Gruppe von erfahrenen bzw. weniger erfahrenen Mitarbeitenden. Unter der Annahme, dass die Merkmale beider Gruppen abseits des Workarounds ähnlich sind, ist so der Vergleich beider Kollektive und die Erfassung des durchschnittlichen Effekts (average treatment effect, ATE) möglich.

Mit dieser Methode haben wir nicht nur gute Erfahrungen gemacht, sie ist auch ohne die Beteiligung der Domänenexperten/-innen nicht anwendbar und sie stellt eine gute Drehscheibe für die Nutzung von Domänenwissen im Kontext des Process Mining dar. Weitere Voraussetzung ist eine gewisse Dichte und Vollständigkeit der relevanten Kennzahlen, die über die im Process Mining verwendeten Event Logs hinausgehen.

Hintergrund

Die Kausalinferenz wurde in den letzten Jahren stark u.a. durch den Turing-Award-Träger Judea Pearl vorangetrieben. Zuerst war sie stark in den Bereichen Ökonometrie und Epidemiologie: Disziplinen in denen es schwer ist, Experimente zu machen. Der Ansatz setzt sehr auf die Anwendung von explizitem Domänenwissen und ist damit der Kategorie Explainable AI zugeordnet.

 

Letztlich können mit diesem Methodenbaukasten Fragen vom Typ "Was wäre wenn?" beantwortet werden. Es wird abschätzbar, welche Effekte eine Veränderung des Soll-Prozesses hätte.

 

Visuelle Methoden

Neben rein rechnerischen Methoden zur Analyse von Workarounds gibt es auch visuelle Verfahren, die sehr leicht zugänglich sind.

Der Performance Spectrum Miner (PSM) ist so ein Werkzeug zur Analyse von Eventlogs. Dabei werden Prozessinstanzen an einer horizontalen Zeitachse angeordnet. Eine Ausführung eines Prozesses verläuft dabei von oben nach unten. Auf der vertikalen Achse ist ein Diagramm des PSM in Segmente unterteilt. Ein Segment steht für jeweils zwei aufeinanderfolgende Prozessschritte. So lassen sich sequentielle Prozessdurchläufe aggregiert über die Zeit darstellen: Staus und Unregelmäßigkeiten werden schnell sichtbar.

Eine beispielhafte PSM-Auswertung

Bild: Eine beispielhafte PSM-Auswertung (hier realisiert in PowerBI auf den Beispieldaten zu Parksündern aus dem PSM-Paper)

 

So findet bspw. der vierte Prozessschritt "FIN>>RELEASE" fast immer unverzüglich und im FIFO-Modus statt (senkrechte Striche, Start- und Endzeitpunkte sind fast identisch), einige Male aber auch nicht.

Abweichende Prozessschritte können im Kontext der Zeitdimension betrachtet, Mustern zugeordnet und hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf andere Prozessinstanzen bewertet werden. Insbesondere könnten wir sehen, ob ein Workaround vielleicht Staus auslöst oder aufhebt oder nur lokal nützlich ist aber weiter hinten in der Prozesskette zu Problemen führt. 

Der PSM kann auf diese Weise Auffälligkeiten hervorheben, die mit der Hilfe von Fachexperten/-innen im Umfeld des Geschäftsprozesses evaluiert werden müssen. 

 

Interviews, Befragungen, Beobachtungen: Verantwortung

Alle aufgezählten Methoden sind auf Expertenwissen angewiesen, um konkrete Handlungsempfehlungen auszusprechen.

Dieses Wissen kann mit qualitativen Herangehensweisen wie Interviews, Befragungen und Beobachtungen erfasst werden. Dabei können diese in allen drei Schritten der Workaround-Analyse Anwendung finden. Sie können dabei unterstützen, Workarounds zu identifizieren, die notwendigen Informationen bereitstellen, um Workarounds Kategorien zuzuordnen und vor allem zur Bewertung gefundener Workarounds im Zusammenhang dienen.

Durch iteratives Anwenden qualitativer Verfahren können Einsichten über Prozesse erlangt werden, die mit quantitativen Strategien nicht erzielbar ist. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Erfassung und Auswertung der Ergebnisse aufwendig ist und Personal bindet. Zudem kann die Tatsache, dass Workarounds als unerwünschte Abweichungen vom Standard betrachtet werden, dazu führen, dass Teilnehmer:innen ihr Verhalten verbergen und die Anwendung von hilfreichen Workarounds vermeiden oder verschweigen.

Es wird schnell klar: Prozessevolution kann man nur mit einem agilen Mindset und eigenverantwortlichem Handeln  sinnvoll fördern: Es geht um Befähigung und Anerkennung der kreativen Lösungsfähigkeiten von hochqualifizierten Fachkräften durch entsprechende Rahmenbedingungen und Methoden.

 

Fazit

Workarounds sind potenzielle Prozessinnovationen. Eine strukturierte Analyse des Phänomens und das fortwährende Monitoring entsprechender Prozessdaten sind ein wichtiger Bestandteil der Wandlungsfähigkeit von Unternehmen.

Die gezeigten Auswertungen ermöglichen ein objektives Verständnis der Effekte von Workarounds. Diese Informationen dienen in Verbindung mit Fachwissen als Entscheidungsunterstützung, wie mit Workarounds umgegangen werden muss, um sie nutzenstiftend und gezielt einzusetzen. Die verschiedenen Methoden haben unterschiedliche Stärken und Schwächen und können kombiniert werden.

 

Werden Sie aktiv

Auch Ihr Teams ist kreativer als der Soll-Prozess und dabei auf diese Kreativität angewiesen, um zum Ziel zu kommen? Es gibt auch Daten zum Prozess? Lassen Sie uns darüber sprechen, wie ein sinnvoller Evolutionspfad für den Soll-Prozess entstehen kann. Schreiben sie einfach eine Mail an Frank Köhne. Er leitet den Kompetenzbereich Data Science bei der viadee und freut sich auf Ihre Nachricht.

 


Dieser Blogpost ist im Wesentlichen aus der Master-Abschlussarbeit von Daniel Alile an der TH Köln entstanden.


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Dr. Frank Köhne

Dr. Frank Köhne

Dr. Frank Köhne ist Beratender Manager bei viadee IT-Unternehmensberatung, Co-Leiter des F&E-Bereiches Data Science und zuständig für Hochschulkooperationen im Raum Münster. Er engagiert sich im Programm-Komitee für den NAVIGATE-Kongress.

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