In einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten gemeinsamen Projekt mit der Universität Paderborn und verschiedenen Praxispartnern und Unternehmen untersucht ein Team der viadee die Effekte von Workarounds in Unternehmen. Unsere These: Ein Abweichen von Standardprozessen sollte nicht immer unterbunden werden, es kann zu Antworten auf neue Gegebenheiten und Innovationen führen. Konsortialleiter Dr. Frank Köhne zum Start des Projektes:
Die verschiedenen Seiten von Workarounds – gut, schlecht oder unbemerkt?
Zentrale Aufgabe im Prozessmanagement ist die Optimierung der Unternehmensabläufe und die Definition effizienter Vorgehensweisen: Der BPM-Cycle dreht sich schon. Oft verändert sich die Umwelt aber noch schneller.
Workarounds sind bewusste Abweichungen von definierten Soll-Prozessen und können dabei in verschiedensten Unternehmensbereichen entstehen. Sie können durch Non-Konformität Risiken generieren und werden dadurch meist negativ wahrgenommen. Aber auch positive Auswirkungen für ein Unternehmen sind denkbar wenn Potenziale für Verbesserungen aufgezeigt werden. Denn anders als Arbeitsfehler oder ungewollte Abweichungen, werden Workarounds im Sinne der Prozessziele genutzt, um veränderte Anforderungen oder fehlende Ressourcen zu bewältigen. Das ist eine neue Form von Wandlungsfähigkeit. Dafür müssen Workarounds nicht nur in den Prozessen identifiziert werden, sondern auch deren Konsequenzen im Kontext betrachtet werden.
Dass Workarounds in Unternehmen stattfinden, steht fest. Diese Beobachtung hat Prof. Daniel Beverungen von der Universität Paderborn zur aktuellen Forschungsfrage gebracht: Wie kann der Umgang mit Workarounds sinnvoll gestaltet werden?
Forschungsprojekt - Methoden für Identifizierung, Bewertung und Generalisierung von Workarounds in Unternehmen
Mit diesen Fragen beschäftigt sich das Change.WorkAROUND - Projekt, das im Januar 2023 startete und als eines von elf Projekten aus 71 Anträgen vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird. Bei einem Kick-Off Ende Januar lernten sich die Projektteilnehmer:innen in Paderborn persönlich kennen und konnten erste inhaltliche Erkenntnisse erarbeiten.
Ziel des Projektes ist die Entwicklung neuer Methoden und Werkzeuge für die Identifizierung und Bewertung von Workarounds und die Umsetzung neu gewonnener Erkenntnisse im Unternehmen. Dadurch soll die Wandlungsfähigkeit verbessert und Raum für neue Innovationen geschaffen werden. Workarounds finden weit verbreitet statt, entweder unbemerkt oder schon bekannt. Es geht darum, diese auf strukturierte Art und Weise zu bearbeiten und die Potenziale für Unternehmensprozesse zu nutzen. Dabei setzt sich das Projekt aus verschiedenen Perspektiven zusammen: Zum einen geht es um die geordnete Identifizierung - interaktiv oder auf Basis der verfügbaren Datenspuren. Hierfür sollen verschiedene KI- und Data Science-Methoden Verwendung finden. Zum anderen steht die Umsetzung der neuen Erkenntnisse durch Veränderungs- und Kulturmanagement im Fokus, um die langfristige Verankerung innerhalb der Organisationen zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang geht es um die Befähigung der Fachkräfte, selbstbestimmt und mit agilem Mindset zur Prozessevolution beizutragen.
Die viadee-Perspektive: Data Science, Process Mining - Process Science
Workarounds können sehr unterschiedlich aussehen, aber sie werden oft Datenspuren hinterlassen. Im Rahmen von Industrie 4.0 und den wachsenden Mengen an verfügbaren Daten über die Ausführung von Unternehmensprozessen ergeben sich neue Möglichkeiten, produktiv mit Prozessabweichungen umzugehen. Data Science-Verfahren wie Anomalie-Erkennung oder Process Mining (oder auch Conformance Checking) sind naheliegende Kandidaten für anwendbare Methoden, um Workarounds zu identifizieren
Aus ersten Interviews und Experimenten sind aber bereits Herausforderungen und Grenzen dieser Ansätze zu erkennen:
- Workarounds betreffen oft nicht nur den gewählten Kontrollfluss und sind so potenziell unsichtbar für klassische Process Discovery Verfahren.
- Workarounds sind potenziell selten oder stellen per Concept Drift ad hoc die neue Normalität im Prozess dar.
- Workarounds sind Reaktionen auf neue "Misfits", auf die ein Prozess nicht vorbereitet war. Oft fehlen Daten zu diesen neuen Situationen.
- Das Bemerken von Workarounds scheint oft auch durch gute Kommunikationsstrukturen leistbar zu sein. Deren objektive Bewertung ist in jedem Fall eine analytische Herausforderung.
- Es gilt möglichst viele analytische Handlungsspielräume und Verantwortung bei den Prozessbeteiligten und den einzelnen Process-Owner:innen herzustellen, um vertrauensvolle Zusammenarbeit und kurze Wege zu begünstigen.
Anders als in typischen Experimentalsituationen begleiten wir die Anwendungsunternehmen über mehrere Jahre: Es gilt also auch zu klären, welche Daten schon verfügbar sind und welche es sich im nächsten Schritt lohnt zu erfassen. Grundlage für Process Mining sind einerseits Daten wie Event Logs, mit denen die Prozessschritte in einem Unternehmen protokolliert und Abläufe beschrieben werden können und andererseits Kennzahlen und KPI, mit denen Effekte von Veränderungen bewertet werden können: Wir bewegen uns damit im Kontext des Multidimensional Process Mining.
Die identifizierten Workarounds müssen in Bezug auf ihre Auswirkungen für die Soll-Prozesse und Zielgrößen des Unternehmens bewertet werden, damit begründet Handlungsempfehlungen ausgesprochen werden können. Dafür ist das Domänenwissen der Beteiligten zwingend notwendig. Über Analysen und Kennzahlen allein können verschiedene Optionen mit und ohne Workarounds betrachtet, aber nicht ohne Domänenwissen in Handlungsempfehlungen übersetzt werden. Dabei kann der Methoden-Werkzeugkasten der Kausalinferenz einen Rahmen bilden, um Kausalität und Korrelation auseinanderzuhalten.
Wer ist an dem Projekt beteiligt?
Um die relevanten Aspekte beleuchten und einen umfassenden Lösungsansatz entwickeln zu können, arbeiten aktuell sieben Projektpartner zusammen. Die Data Science-Sicht der viadee wird dabei um Perspektiven von zwei weiteren Beratungsunternehmen ergänzt:
- Die myconsult GmbH ergänzt als Managementberatung das Projekt durch Kompetenzen zu Veränderungsmanagement und Handlungsoptionen für Führungskräfte. Mit dem Fokus auf der Organisationsentwicklung sollen Workarounds als Kulturelemente untersucht und organisatorisch eingeordnet werden.
- Die Unity AG betrachtet die Prozessveränderung auf strategischer Ebene und untersucht, wie Workarounds in Innovationsprozesse umgesetzt werden können. Dabei geht es auch um die Kommunikation und Begleitung bei der Veränderung.
- Die Universität Paderborn - konkret der Software Innovation Campus (SICP) - hat die wissenschaftliche Leitung des Projekts. Die Teams um Prof. Daniel Beverungen und Prof. Martin Schneider ergänzen die Perspektiven der Wirtschaftsinformatik und der Personalwirtschaft.
Die Strategien, Methoden und Werkzeuge werden zurzeit in Zusammenarbeit mit drei Anwendungsunternehmen entwickelt, welche Prozessdaten und Erfahrungsberichte zur Verfügung stellen und damit eine Validierung der neuen Methoden in der Praxis ermöglichen. Dabei sind in dem Projekt verschiedene Branchen vertreten:
- Miele produziert und vertreibt nicht nur Produkte für Privatkunden, sondern im Rahmen der Miele Professionals auch für Großkunden. Durch die Entwicklung der Industrie 4.0 stehen verschiedenste Daten zur Verfügung, welche im Rahmen des Projektes analysiert und weiterverarbeitet werden können. Veränderungsdruck entsteht hier durch kundenspezifische Anforderungen und die globalen Veränderungen, die Lieferketten gefährden.
- Die REMBE GmbH Safety+Control ist im Bereich Explosionsschutzsysteme und Druckentlastungseinrichtungen tätig und dabei auf die individuellen Anforderungen ihrer Kunden spezialisiert. Daher ist eine besondere Wandlungsfähigkeit nötig, welche durch die geordnete Identifizierung von Workarounds weiter ausgebaut werden kann. Erfolg und Wachstum des Unternehmens stellen weitere Wandlungstreiber dar.
- Die Westfalen AG befasst sich mit Flüssiggas, Kraftstoffen sowie technischen Gasen und erfährt insbesondere in der aktuellen Zeit einen hohen Veränderungsdruck durch den Energiemarkt und die sich dort bietenden Chancen und Herausforderungen. Im Rahmen des Projektes sollen daher auch hier verfügbare Prozessdaten bei der Identifizierung von Prozessinnovation genutzt werden.
Workarounds? Haben wir auch!
Vielleicht verstecken sich Prozessinnovationen darunter. Unser Projekt ist am 01.01.2023 gestartet und wir suchen weitere Anwendungspartner. Sie können sich vorstellen mit Ihrem Unternehmen durch neue Methoden "von innen" wandlungsfähiger zu werden? Dann sprechen Sie uns gerne an.
Das Projekt wird gefördert im Rahmen der Maßnahme Industrie 4.0 – Wandlungsfähigkeit von Unternehmen in der Wertschöpfung von morgen (InWandel). Wir bedanken uns beim Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und dem Projektträger Karlsruhe (PTKA) für diese Unterstützung und die gute Zusammenarbeit.
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