Selbstorganisierte Teams (Teil 1): Wir steuern uns selbst! – Ok, aber was brauchen wir dafür?

Dienstag, 21.5.2019

Selbstorganisierte Teams

Ihr seid doch jetzt ein selbstorganisiertes Team! Diese Aussage hört man nicht selten im Kontext agiler Organisationen. Was heißt das konkret? Erfahrene Teams und Scrum Master kennen die Antwort: Das Team entscheidet, wie Aufgaben erledigt werden und wie die Zusammenarbeit gestaltet wird. Aber was braucht ein Team für gelungene Selbstorganisation? Wir werfen in dieser Blog-Reihe einen Blick darauf, welche Funktionen in Teams für Erfolg erforderlich sind und wie man diese in Scrum etablieren kann.

Selbstorganisation durch Tätigkeiten

Komplexe Probleme erfordern komplexe Lösungen. Im Falle agiler Methoden und Vorgehensweisen ist es die Selbstorganisation von Teams, auf die heutige Organisationen im komplexen, volatilen und unbeständigen Umfeld setzen. In Scrum ist es das gesamte Scrum-Team, das selbstorganisiert arbeitet und damit auch als Team für die Ergebnisqualität verantwortlich ist. Dahinter steht auch eines der zwölf Prinzipien des agilen Manifests:

Die besten Architekturen, Anforderungen und Entwürfe
entstehen durch selbstorganisierte Teams.

Doch welche Voraussetzungen müssen für gelungene Selbstorganisation erfüllt sein?

Ein Blick auf Gruppen ist dazu hilfreich. Der Gruppendynamiker Ewald Krainz fasst die Tätigkeiten, die eine Gruppe braucht, um erfolgreich zu sein, in vier Funktionsbereiche zusammen - wir wollen dieses Modell nachfolgend auf Scrum-Teams anwenden.
Wenn es darum geht, wie gut ein Team "funktioniert", ist weniger interessant, welche Rollen bestimmte Personen einnehmen. Vielmehr sind es Tätigkeiten und Funktionen, die durch Personen in der Gruppe ausgefüllt werden. Das ist wiederum dynamisch – eine Tätigkeit wird mal von der einen, mal von einer anderen Person durchgeführt. Nebenbei bemerkt ist die Unterscheidung der Begriffe Gruppe und Team an dieser Stelle nicht relevant, diese Gruppenmechanismen wirken genauso im Teamformat.

Welche Tätigkeiten braucht es in einem Team?

Die vier Kategorien von Gruppenfunktionen sind folgende (aus Krainz, 2011: Leiden an der Organisation):

 

Gruppenfunktionen

1. Auf's Ziel zu!

Die erste Kategorie sind die "aufgabenbezogen-zielorientierten Funktionen". Zu diesen Tätigkeiten zählt letztendlich alles, was direkt mit der Zielerreichung zu tun hat, etwa das Definieren der Ziele, oder in Scrum beispielsweise das Schreiben von User Stories und Anforderungen sowie die Umsetzung und die teaminterne Arbeitsaufteilung.
 
Zielorientierte FunktionenDiese Dimension ist am eingängigsten: Um ein Ziel zu erreichen, müssen eben bestimmte Tätigkeiten durchgeführt werden. In Scrum ist es das Umsetzungsteam, das Produktinkremente liefert und in jedem Sprint ein selbstbestimmtes Ziel anstrebt. Es entscheidet dabei eigenständig, wie und von wem diese Funktionen übernommen werden. Die Herausforderung für die meisten Teams ist allerdings, sich diesen Prozess auch bewusst zu machen und ihn aktiv zu gestalten, denn andernfalls kann man nicht von wirklicher Selbststeuerung sprechen. In Scrum bedeutet diese Steuerung häufig, Experimente durchzuführen und diese anschließend zu evaluieren.
 

2. Den Zusammenhalt im Blick

Weiter geht es mit den "gruppenerhaltenden Funktionen", womit all diejenigen Tätigkeiten gemeint sind, die die Gruppe als solche stabilisieren, etwa ein Auge für die Bedürfnisse der Teammitglieder zu haben, andere zu ermutigen, Gefühlslagen auszudrücken, bei Konflikten zu vermitteln oder Außenseiter hereinzuholen. 

Gruppenerhaltende FunktionenBei diesem Bereich denken Agilisten sicher sofort an den Scrum Master: Er oder sie ist dafür verantwortlich, dass der Prozess reibungslos läuft, ist Coach, Moderatorin, Konfliktlöser und beseitigt Hindernisse. Das geht aber nicht ohne die Beteiligung der Teammitglieder. Die gruppenerhaltenden Funktionen sind im gesamten Team zu etablieren und nicht an eine Person oder Rolle gebunden. Scrum Master sind zwar verantwortlich, brauchen aber nicht alles selbst zu tun. Bei wachsender Reife des Teams kann man sich mehr und mehr auf die gruppeneigenen Mechanismen verlassen.
 

3. Jeder für sich oder alle zusammen?

Individuelle Funktionen sind ein weiterer Aspekt der Tätigkeiten, die in Gruppen erforderlich sind. Wer kennt es nicht: Manch einer im Team ist sehr zurückhaltend, die nächste ist notorisch dagegen, jemand anderes möchte sich andauernd wichtigmachen, die vierte blödelt nur herum und nimmt die Dinge nicht ernst. Solche Verhaltensweisen zählen zu den individuellen Funktionen.

Individuelle Funktionen

Allerdings klingt das alles erstmal gar nicht nach "Team" und man würde sogar denken, dass man solche Tätigkeiten in einem guten Team überhaupt nicht gebrauchen kann. Das stimmt allerdings nur bedingt. Der Autor spricht in dieser Hinsicht von einer "Umwegrentabilität": Wenn individuelle Eigenarten von Personen zugelassen werden und jeder so sein darf, wie er ist, stärkt das die eigene Sicherheit und erlaubt damit auch Offenheit im Team. Es ist auch in Scrum-Teams wichtig, die persönliche Seite in die Teamarbeit einfließen zu lassen, damit Zusammenhalt möglich ist. Dabei ist naheliegend, dass diese Funktionen nicht maßlos Überhand nehmen sollten – und wenn sie das tun, braucht es gruppenerhaltende Tätigkeiten als Gegenpol. So kann es etwa geschehen, dass ein Teammitglied zurückhaltend ist und selten von sich aus aktiv am Geschehen teilnimmt – nun muss die Person mit ihrer Eigenart nicht von Grund auf geändert werden – es kann aber wichtig werden, dass es auch gruppenerhaltende Funktionen gibt, die diese Konstellation ausgleichen (etwa: "Was denkst du dazu? Bist du einverstanden mit der Lösung?"), oder die Situation besprochen wird.

4. Die Vogelperspektive einnehmen

Zuletzt kommen wir genau zu den Tätigkeiten, die Situationen sichtbar und besprechbar machen: Analytisch-reflexive Funktionen dienen der kontinuierlichen Verbesserung in Scrum. Dabei geht es etwa darum, Beiträge zu bewerten und kritisch einzuordnen, den Ist-Zustand mit den Zielen zu vergleichen, Gruppensituationen zu diagnostizieren oder das Kommunikationsverhalten und Entscheidungsprozesse zu beobachten und anzusprechen. 

Analytische FunktionenDiese Tätigkeiten sind in Scrum ganz klar im Prinzip "Inspect & Adapt" verankert. Ein Rahmen dafür sind das Sprint Review (Produktanalyse) und die Retrospektive (Prozessreflexion). Allerdings ist Reflexion nicht nur dort, sondern auch im fortlaufenden Sprint, im Daily Scrum und während der täglichen Zusammenarbeit gefragt. Verbesserungsideen brauchen nicht zu warten, sondern sollten dann umgesetzt werden, wenn sie sinnvoll passen.
 

Bewusste Selbststeuerung in Teams

Was braucht ein Team gerade? Das Modell der Gruppenfunktionen ist nützlich, um die Teamarbeit aus dieser Perspektive unter die Lupe zu nehmen. Sind manche Tätigkeiten in einer Gruppe gar nicht vertreten, kann es zu einem Ungleichgewicht kommen. Liegt etwa der Fokus stark auf den zielorientierten Funktionen und bleiben die individuellen Funktionen vernachlässigt, verlieren die Beteiligten schnell die Motivation. Ist dagegen ein Defizit bei den gruppenerhaltenden Funktionen vorhanden, kann keine offene und kreative Atmosphäre für Kooperation entstehen.

Erfolgreiche Selbststeuerung ist nun – aus dieser Perspektive gesehen – das ganzheitliche, bewusste Einnehmen der Tätigkeiten, die in Gruppen gebraucht werden. Das funktioniert dann besonders gut, wenn der analytisch-reflexive Teil gepflegt wird. Wenn das Team weiß, wie es gut miteinander arbeitet, ist der Grundstein für die Lösung komplexer Herausforderungen gelegt. Das wiederholte, turnusmäßige Reflektieren im kontinuierlichen Verbesserungsprozess ist dabei zentral – letztlich das, was in den Scrum-Grundsäulen "Inspect & Adapt" verankert ist (an anderer Stelle auch mit den Begriffen "Deming-Cycle" oder "systemische Schleife" umschrieben).

Die Verantwortung des Scrum Masters und agiler Führung liegt darin, sich um die Defizite zu kümmern und dafür zu sorgen, dass die fehlenden Tätigkeiten im Team etabliert werden. Wie können diese Funktionen kreativ in einer Retrospektive thematisiert werden?


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Texte zum Thema:

  • Krainz, E. E. (2011). Leiden an der Organisation. In Ratheiser, K. M., Menschik-Bendele, J., Krainz, E. E. & Burger, M. (Hrsg.), Burnout und Prävention. Springer.
  • Wachter, J. (2018). Auf Veränderung Reagieren. Teamreflexion in agilen Retrospektiven. Zeitschrift OrganisationsEntwicklung, 1, 62-67

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Joris Wachter

Joris Wachter

Joris Wachter war bis November 2019 Agiler Coach und Business Analyst bei der viadee Unternehmensberatung. Sein Fokus liegt auf agiler Teamentwicklung, Anforderungsanalyse und Soft-Skills in IT-Projekten.

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