Das Dilemma mit den Kennzahlen

Freitag, 30.4.2021

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Die wahren Hintergründe warum viele, die ein Cockpit zum Steuern möchten höchstens einen Flugschreiber bekommen. 

In Vorträgen und in Gesprächen mit vielen Kund:innen zum Thema Kennzahlen hat sich gezeigt, wie aufwendig Kennzahlensysteme in der Praxis umzusetzen sind und auf wie viel erwarteten und unerwarteten politischen Widerstand man dabei stößt.

Nicht selten trifft man auf bereits vorhandene Resignation und Hilflosigkeit bei diesem Thema. Resignation, da das Thema Kennzahlen entweder von oben gewünscht, aber mit wenig Verständnis für die Arbeitsebene durchgeboxt wurde oder weil gute Ideen aus der Belegschaft nicht als Handlungsaufforderung auf Entscheidungsebene gewürdigt wurden und ohne ein entsprechendes Mandat im Sande verlaufen sind. In beiden Fällen erhält man ein dysfunktionales und nicht gelebtes Kennzahlensystem. Die Hilfslosigkeit kommt darin zum Ausdruck, dass in allen Fällen die wahren Ursachen des Scheiterns unerkannt bleiben. Es gibt keine Strategie und bisweilen auch keine Kultur, um aus Fehlern zu lernen und einen neuen Anlauf zu wagen. Häufig bleiben solche Kennzahlensysteme sogar noch einige Zeit in Gebrauch. Diese stellen aber nur eine Scheinwirklichkeit dar und die Aussagen solcher Systeme sind als Steuerungs- und Optimierungsinstrument leider völlig ungeeignet.

Eigentlich alles ganz einfach, oder?

Befragt man das Kollektivwissen des Internets ist alles rund um Kennzahlen doch eigentlich ganz einfach. Es gibt unzählige Webseiten, die das Ermitteln von aussagekräftigem Zahlenmaterial im Unternehmen anschaulich an einfachen Beispielen erklären. Wer dieses nicht im DIY-Ansatz machen möchte, findet ebenso viele Unternehmen, die gerne unterstützen. Schwierigkeiten oder Herausforderungen werden dabei in der Regel nur im Subtext erwähnt. Natürlich geht es dabei – wie auch in diesem Beitrag – letztendlich darum, Dienstleistungen anzubieten. Aber die Leichtigkeit der Darstellung ist gerade beim Thema Kennzahlen eine maßlose Untertreibung.

Daher widme ich mich in diesem Beitrag dem steinigen, aber erfolgreichen Weg zu einem wirkungsvollen Kennzahlensystem. Ein Fokus liegt dabei auf typischen Stolpersteinen. Vielleicht erkennt der ein oder andere Leser eine Situation im eigenen Unternehmen wieder und kann bei einem Auftreten diese besser handhaben. Dabei möchte ich besonders auf Schmerzpunkte und Fehlerursachen bei der Einführung von Kennzahlensystemen eingehen und warum diese nicht selten scheitert bzw. nur schlechte Systeme hervorbringen.

Im richtigen Ansatz liegt die Kraft!

Mal ganz von vorne gedacht: Wie sollten Kennzahlensysteme in einem Unternehmen eingeführt werden? Bei der verbreiteten Top-Down-Methode entscheidet das Top Management, welche Kennzahlen im Unternehmen ermittelt, gesammelt und berichtet werden. Diese sollen sich über eine immer differenziertere Betrachtung von kritischen Erfolgsfaktoren (Critical Success Factors kurz CSF), Schlüsselfaktoren für Performance (Key Performance Indices kurz KPI) usw. aus der Unternehmensvision, -strategie und den Unternehmenszielen ableiten. Adäquate Kennzahlen sind dazu bis auf die zu messenden Aktionen auf Arbeitsebene herunterzubrechen (siehe hierzu auch die Grafik Performance Management Pyramide). Die Schwierigkeit bei diesem Ansatz ist häufig, dass im Bereich des mittleren Managements diese Ziele verwässert, aufgeweicht oder auch konträr zu der Unternehmensvision stehen, die meist aus einfachen Thesen komponiert werden. Gerade in unterstützenden Abteilungen wie der IT sind Kosten und Nutzen häufig kein einfacher Ursache-Wirkungskomplex. Ein weiterer Punkt ist, dass Fragen des Datenschutzes oder der Compliance (z. B. Betriebsrat, Unternehmensphilosophie, gesetzliche Regularien wie der BAFIN usw.) in Ihrer Vielschichtigkeit häufig unterschätzt werden. Die Angst, dass personenbezogene Leistungsmessungen durch Kennzahlensysteme quasi durch die Hintertür eingeführt werden, ist weit verbreitet und nicht völlig unbegründet.

Hinzu kommt, dass unterschiedliche politische Interessen auf Arbeitsebene oder eine nicht offene Fehlerkultur im Unternehmen die Einführung von Kennzahlensystemen erheblich erschwert. Gerade in letzterem Fall werden sie nur als weiteres Instrument für Schuldzuweisung und die Ausübung zusätzlichen Leistungsdrucks gesehen. Sofern hier aber mehrere Faktoren in stimmiger Weise zusammenkommen, also ein Mandat aus der Geschäftsführung, eine offene Fehlerkultur im Unternehmen, das gemeinsame Arbeiten an Zielen und herunterbrechen auf die jeweilige Arbeitsebene im Einklang mit regulatorischen und selbstgesteckten Vorgaben, kann die Top-Down-Methode tatsächlich ein guter und einfacher Weg zum Erfolg sein.

Wie sie ein Reporting ohne Schmerzen aufbauen können

Neben den Systemen aus der Top-Down-Methode finden sich auch gewachsene Strukturen, die sich über viele Jahrzehnte nur graduell und langsam verändert haben. Unsere Erfahrung als viadee zeigt, dass der damit verbundene Bottom-Up-Ansatz die praktikablere und nachhaltigere Lösung darstellt. Dazu benötigt man im besten Fall immer noch ein Mandat von oben, um eine Art offizielle Keimzelle zu bilden. Es funktioniert aber auch ohne. Diese Art der Guerilla Taktik verlangt viel Standfestigkeit der eigenen Abteilung sowie der involvierten Führungskräfte. Der entscheidende Vorteil ist aber, dass man ein Sprungbrett für Mehr hat. Und das mit dem Nachweis, dass es im kleinen schon Erfolge zu feiern gibt, ohne das gesamte Unternehmen mit Transformationsschmerzen und Prozessänderungen beschwert zu haben. Der Nachteil ist offensichtlich: Selbst im Erfolgsfall hat man nur eine Insel im Gesamtunternehmen „bekehrt“. Viele Schnittstellen zu Prozessen außerhalb der eigenen Abteilung bleiben unverändert, da man auf deren Parametrisierung wie z. B. die Durchführungsgeschwindigkeit oder Ausführungsqualität keinen Einfluss hat.

Transformationsprozesse führen immer zu zeitweiligen Performance-Einbußen und Reibungsverlusten. Daher lässt sich die Top-Down-Methode mit einer in der Theorie schnellen, aber stark reibungsbehafteten Big-Bang-Einführung vergleichen. Die Bottom-Up-Methode stellt dagegen eine langwierigere, aber schmerzarme Methode dar. Sie birgt wesentlich weniger Risiken und ermöglicht jedem Teilnehmer frühzeitig Erfahrungen mit dem neuen System zu sammeln, die wiederum bei der Entwicklung und Einführung in weiteren Abteilungen berücksichtigt werden können.

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Abbildung: Performance Management Pyramide

Ein Flugschreiber ist nicht zum Steuern da!

Ein Flugschreiber – umgangssprachlich auch als Black Box genannt – ist ein Aufzeichnungsgerät an Bord größere Flugzeuge, welches während eines Fluges relevante Flugdaten- und Flugzeugparameter sowie weitere Informationen zeitlich zugeordnet speichern. Nach einer Störung oder einem Unfall erlauben die gespeicherten Daten den Hergang aufgrund des Verhaltens des Flugzeuges und seiner Besatzung nachzuvollziehen. Viele Kennzahlensysteme ähneln Flugschreibern insofern, als dass sie keine Rückschlüsse auf kurz- oder mittelfristige Optimierungen oder Prozessverbesserungen ermöglichen und erst dann ausgewertet werden, wenn die eigentlich zu handhabende Situation bereits verstrichen ist. Typische Ausprägungen solcher Systeme nutzen Kennzahlen selten bis einmal pro Jahr, um Aussagen, wenn es gerade passt, scheinbar objektiv zu untermauern. Sie werden selten als operatives Steuerungsinstrument verwendet, was auch nur sehr eingeschränkt sinnvoll ist und ihr Pflegeaufwand steht diametral zum erzeugten Nutzen. Sie erlauben keinen kontinuierlichen Verbesserungsprozess, weil die Zahlen das bestehende Systeme gerne als bereits optimal ausweisen. Messungen geschehen, wie schon oben angedeutet, selten und häufig durch manuelle Ermittlungs- oder Schätzverfahren. Die erhobenen Daten sind dabei weder klar nachvollziehbar noch objektiv.

In der Regel gesellt sich zu der oben beschriebenen technischen Komponente eines flugschreiberartigen Kennzahlensystems auch eine politische: Kennzahlensysteme, die zwar etabliert sind, welche aber nur am Leben erhalten werden, weil dieses von einschlägiger Stelle im Unternehmen gewünscht wird. Solche Kennzahlensysteme werden deswegen getragen, weil man gegenüber dem Topmanagement ein vermeintliches Versagen nicht zugeben möchte und so jeder lieber seinen Beitrag leistet. Dabei ist nicht die oberste Prämisse die Wahrheit zu berichten, um sich für die Zukunft besser aufzustellen, sondern politisch möglichst nicht aufzufallen.

Nun haben wir einige Gründe kennengelernt, warum Kennzahlensysteme in der ein oder anderen Weise scheitern. Wenn dies bei Ihnen nicht zutrifft, habe ich noch einige weitere Merkmale zusammengestellt, um eine Identifizierung möglich zu machen. Vielleicht erkennen sie sich darin wieder.

Weitere Features von Kennzahlen-Flugschreibern

Ein häufiges Problem bei Kennzahlensystemen sind die Messungen oder Berechnungen, die zur Bestimmung von KPIs benötigt werden. Folgende Fälle und Annahmen habe ich dabei in der Praxis beobachtet:

  1. Kennzahlen werden manuell und nicht häufig genug bestimmt.
  2. Messgrößen für Kennzahlen sind rein subjektiv ermittelte Werte und basieren nicht auf objektiven Fakten, sondern z. B. auf Schätzwerten, Bauchgefühl oder groben Annahmen.
  3. Jede Messgröße ist eine Kennzahl (falsch!).
  4. Es gibt keine definierten Budgetgrenze für die Implementierung von Kennzahlen.
  5. Es gibt kein Budget oder die Implementierungskosten für ein Kennzahlensystem sind nicht geschätzt.
  6. Die Wichtigkeit der einzelnen Kennzahlen ist nicht priorisiert.
  7. Es fehlt eine fachlich kompetente und führungsstarke Begleitung bei der Einführung von Kennzahlensystemen.

Ohne Prozesse keine Kennzahlen!

Das Grundproblem ist zunächst, dass zur Ermittlung von Kennzahlen und Messgrößen die Abläufe im Unternehmen so normiert sein müssen, dass ermittelte Zahlen auch Rückschlüsse über die Arbeitsweise zulassen. Wenn Arbeitsergebnisse das Resultat einer zufälligen Abfolge von Arbeitsschritten wären, würde es schwierig zu verstehen, was man besser machen kann, wenn das Arbeitsergebnis nicht den Erwartungen entspricht. Sprich: Ohne Prozess keine Kennzahlen! Sind in einem zu untersuchenden und mit Kennzahlen zu belegenden Bereich keine Prozesse definiert oder werden diese Prozesse nicht gelebt, macht das Erheben von Kennzahlen entweder keinen Sinn oder deren Aussagekraft wird gemindert. Symptomatisch ist auch, dass nach Einführung von Prozessen, niemand mehr für deren Optimierung und Einhaltung im Unternehmen verantwortlich ist und das im operativen Geschäft Prozesskonformität eine untergeordnete Rolle spielt. Damit entfernen sich die dokumentierten Prozesse mit der Zeit immer weiter von der Wirklichkeit und bringen weder Mitarbeiter:innen noch Unternehmen Vorteile. Die Anfangseuphorie endet dann schnell in anhaltenden Ermüdungserscheinungen.

Des Weiteren können Kennzahlensysteme auch zum Stille-Kämmerlein-Effekt beitragen: Es findet keine Führung mehr vor Ort anhand der aktuellen Problemstellungen statt. Es wird nur auf Kennzahlen geschaut. Diese sind aber nur Indikatoren und nicht die Wahrheit selbst. Trotz scheinbar vorhandener Prozesse erfolgt im Fehlerfall häufig Feuerlöschen anstatt einer nachhaltigen Verbesserung von Prozessen.

Spotlight: Software-Entwicklungs- und Testprozesse

Speziell in IT-Entwicklungs- und Testprozessen sind uns als viadee diese Situationen besonders häufig aufgefallen. Hier durften wir mit vielen Kundenunternehmen Erfahrungen sammeln und konnten IT Prozesse nachhaltig verbessern. Besonderes möchte ich an dieser Stelle folgende Erkenntnisse hervorheben:

  • Quality Gates zwischen Entwicklungsstufen sind nicht immer ausgeprägt, und wenn, dann mit sehr unterschiedlicher Intensität
  • Die Hauptlast von Qualitätsmaßnahmen liegt immer noch in Qualitäts- und Release-Management-Abteilungen anstatt etwa in der Entwicklung und Anforderungsaufnahme (Shift Left) z. B. für:
    • Erstellen guter Spezifikationen mit Akzeptanzkriterien
    • Durchführen funktionaler Tests bei Grundfunktionen
    • Durchführen und/oder die Organisation nicht-funktionaler Tests
    • Verprobung von Deployments, Schnittstellen und integrativer Tests
    • Die Automatisierung durchgeführte Testformen z. B. durch Unit Tests

Agile Features von Kennzahlen-Flugschreibern

Wer jetzt erleichtert aufatmet und denkt: „Das gibt es bei uns nicht mehr, wir sind ja agil unterwegs!“, darf nach kurzer Pause gerne noch einmal die Luft anhalten. Denn auch agile Verfahren beheben diese Probleme nicht automatisch, auch wenn sie viele gute Ansätze wie Deming Cycle systemimmanent mitbringen. Dabei spreche ich z. B. davon, dass agile Prinzipien nicht eingehalten bzw. nicht konsequent eingeführt werden („Being Agile vs. Doing Agile“) oder Mitarbeiter:innen keine positive Veränderung in ihrer täglichen Arbeit feststellen. In Härtefällen kann dieses bis hin zu Dark Scrum führen, wenn agile Prinzipien nicht richtig verstanden und falsch angewendet werden.

Einige Kennzeichen dafür, dass man vom agilen Weg abgekommen ist:

  1. Scrum Events werden ausgelassen (insb. die Retrospektive)
  2. Planung findet außerhalb des Sprints und mit anderen Personen als dem Team statt
  3. Äußere Abhängigkeiten behindern die vollständige Umsetzung von Agile („Agile Bermuda Dreieck“)
  4. Testing wird als Phase verstanden und nicht als eine durchgehende Aktivität (Mini-Wasserfall)
  5. Unzureichende Automatisierung führt mit der Zeit in eine negative Wartungsspirale und einen Vertrauensverlust in die Anwendung

Wege aus der Krise: Kennzahlen brauchen gelebte Prozesse und Standards

Nach der langen Vorrede sollte nun klar sein: Es ist nicht einfach ein Kennzahlensystem zu etablieren, vor allem nicht im Top-Down-Ansatz. Kennzahlen stehen am Ende einer Kette von definierten Standards und Prozessen im Unternehmen, die gelebt und von Tools effizient unterstützt werden, wo Metriken und Messgrößen automatisiert, sauber und objektiv definiert, gemessen, zusammengetragen und zu KPIs aggregiert werden. Diese Voraussetzungen zu erfüllen bedeutet viel Blut, Schweiß und Tränen! Sind diese dann erfüllt, ist das adäquate Darstellen von Kennzahlen nur ein grafisches Fingerspiel quasi die letzten vier Takte einer Wagner-Oper. An dieser Stelle sei nun unser Hilfsangebot platziert: Die viadee blutet, schwitzt und weint gerne mit Ihren Kund:innen!

 

Dabei setzen wir das Modell der vierstufigen Lösungspyramide ein. Wenn sie erfahren möchten, wie sie mit der Pyramide erfolgreich ein Kennzahlensystem etablieren, laden sie sich das Whitepaper gerne herunter.

Zum Download

Mit vier Stufen zum Kennzahlensystem

Nachdem wir in diesem Blogbeitrag auf das Dilemma mit den Kennzahlen eingegangen sind, zeigen wir in unserem Whitepaper, mit welcher Methodik Sie ein Kennzahlensystem aufbauen können. Laden Sie es sich direkt herunter.


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Dirk Langheim

Dirk Langheim

Dirk Langheim ist Senior-Berater bei der viadee IT-Unternehmensberatung mit dem Themenschwerpunkt Prozess- und Softwarequalität, zuständig für das im Aufbau befindliche Testcenter Köln, überzeugter TMap® Praktizierer und seit über 20 Jahren in verschiedenen Rollen in der IT unterwegs.